Stuttgarter Gespräche

2010 Heimat in der Fremde

Einladungsflyer  

Tagungsbericht 

Der Studientag „Heimat in der Fremde". Katholische Migranten in der „Diaspora" Württemberg hatte das Ziel, die Zuwanderung von Katholikinnen und Katholiken nach Württemberg im 19. und 20. Jahrhundert darzustellen. Stellvertretend für die drei Veranstalter dieser Gesprächsreihe Stuttgarter Gespräche zur historisch-politischen Kultur - die Landeszentrale für politische Bildung, der Geschichtsvereins der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Akademie der Diözese - begrüßte Reinhold Weber (Landeszentrale) die Anwesenden. Innenminister Ulrich Gollbezeichnete die Veranstalter in seinem Grußwort als wichtige integrations- und sinnstiftende Einrichtungen. Die Landesregierung arbeitete heute intensiv in wegweisenden Projekten mit der katholischen Kirche zusammen, in denen es darum gehe, Kindern, vor allem aber deren Eltern, Integration zu erleichtern und mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. 

In drei Referaten wurden drei Wanderungsbewegungen dargestellt, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts die konfessionelle Landkarte Württembergs grundlegend verändert haben. Eine Podiumsdiskussion beschäftigte sich mit der heutigen Situation und der Frage, in wie weit unsere Gesellschaft die Intregrationsaufgaben gelöst hat und welche Herausforderungen in Zukunft zu meistern sind. 

Der Kirchenhistoriker Rainer Kohlschreiber (Stuttgart) führte die Zuhörer, die sich im Haus der Katholischen Kirche eingefunden hatten, ins 19. Jahrhunderts zurück und beschrieb die erste Migrationswelle von Katholiken am Beispiel Stuttgarts. Bis etwa 1850 sei die Residenzstadt eine „evangelische" Stadt geblieben, in der die wenigen hundert Katholiken, die hier als Soldaten, Gesellen, Dienstbotinnen und Dienstboten weitgehend unsichtbar geblieben seien. Mit der Industrialisierung sei die Zahl der Katholiken allerdings rasch gewachsen. Anders als in anderen Staaten des Deutschen Reiches habe es hier, wie in ganz Württemberg, keinen Kulturkampf gegeben. Konflikte seien in Stuttgart „schiedlich-friedlich" gelöst worden. Eine reiche Vereinskultur habe um 1890 etwa 20 Prozent der knapp 19.000 Stuttgarter Katholiken
eine verlässliche „Heimat", ein „katholisches Milieu" geboten. Katholiken vom Land und Vertreter der Diözese Rottenburg betrachteten Stuttgart jedoch als Ort der Kirchenfernen. Tatsächlich war der Kirchenbesuch geringer als in ländlichen Gemeinden. Zudem war der Anteil der Brautpaare mit unterschiedlicher Konfession mit 71 Prozent sehr viel höher als andernorts. Aufgrund des wachsenden Zuzugs - um 1900 hatte sich die Zahl der Katholiken gegenüber 1890 verdoppelt - wurden Katholiken in Stuttgart jedoch eine feste Größe, die selbstbewusst auftrat. Um 1910 führte, zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt, eine Fronleichnamsprozession durch die Straßen Stuttgarts. Die Liturgische Bewegung um 1950 und die kurz darauf folgenden Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils haben in Stuttgart ein harmonisches ökumenisches Milieu entstehen lassen, das noch heute anhält. 

Rainer Bendel (Tübingen) sprach über die zweite große Zuwanderungsbewegung, die nach 1945 durch Flucht und Vertreibung eingesetzt hat. Einrichtungen der Vertriebenen wie die Ackermann-Gemeinde oder das St. Gerhards-Werk, die zunächst von den Alliierten nicht zugelassen worden waren, agierten als Interessenvertreter. 1949 hatten sich diese Organisationen in der Eichstätter Erklärung die Versöhnung mit den Herkunftsstaaten zum Grundsatz gemacht und auf Rache und Vergeltung verzichtet. Sie verständen sich heute als „Brückenbauer" zwischen den Herkunftsländern und den neuen Heimat. Für die Vertriebenen sei nicht nur die Mittellosigkeit und das Gefühl der Fremdheit ein Problem gewesen, sondern auch die vielfach unentwickelte katholische Kirchenstruktur in vielen Orten Württembergs, in denen sie Wohnung zu nehmen hatten. Vertriebenenpfarrer hatten sich jedoch sofort für die seelsorgerlichen und materiellen Bedürfnisse der Zuziehenden eingesetzt. Es sei rasch zu zahlreichen Gemeindegründungen und Kirchenbauten gekommen, was die „alten" und „neuen" Gemeindemitglieder solidarisiert habe. Auch sei es gelungen, die Bedürfnisse nach Pflege der mitgebrachten religösen und kulturellen Formen zu befriedigen und mit der religiösen Kultur in den neuen Diözesen in Einklang zu bringen. Viele Vertriebene hätten zudem erkannt, dass die neue Situation auch Entwicklungs- und Erneuerungsmöglichkeiten böte. Die vielfältigen Probleme, die die Integration von 12 Millionen Vertriebenen mit sich brachte, habe die politischen Aktivitäten der Diözesanleitungen in Deutschland vervielfacht; In der Nachkriegszeit habe sich die katholische Kirche offensiv im Bereich der öffentlichen Sozialpolitik zu engagieren begonnen. Auf der individuellen Ebene, so Bendel abschließend, sei für die Heimatlosen der Glaube ein stärkendes und einigendes Band gewesen; Die Vertriebenenarbeit der katholischen Kirche habe die gesellschaftliche Integration der Menschen in Deutschland erleichtert und beschleunigt.
Karl-Heinz Meier-Braun (Stuttgart) erinnerte zu Beginn seines Vortrags zunächst an den Abschluss des Anwerbevertrags mit Griechenland und Spanien, der sich im Jahr 2010 zum 50. mal jähre. Er erinnerte zudem an den kulturellen Gewinn, den die Gesellschaft dem Kulturkontakt mit den sogenannten Gastarbeitern zu verdanken habe. Die katholische Kirche habe sehr rasch und als erste Institution erkannt, dass, „Arbeitskräfte gerufen, aber Menschen gekommen" waren. Seit den 1960er Jahren sei sie die „Speerspitze der Integration" für die Zuziehenden gewesen. Auch heute seien es wiederum die Kirchen, die sich für einen menschenwürdigen Umgang mit Benachteiligten und „Illegalen" einsetzten, und Staat und Gesellschaft zum Umdenken aufriefen.
Einen instruktiven Überblick zur Situation der Stuttgarter Katholiken mit und ohne Wanderungserfahrung gab der Integrationsbeauftragte der Stadt Stuttgart, Gari Pavkovic. Heute sei die Landeshauptstadt eine „multireligiöse Stadt", in der 38 Prozent der Bevölkerung Erfahrung mit Migration hätten. Die Zahl der katholischen und - in stärkerem Maße - der evangelischen Einwohner nehme seit Jahrzehnten kontinuierlich ab, ebenso die Kirchenbindung. Eine Ausnahme machten jedoch die Katholiken aus Italien, Kroatien und Polen, die die Angebote der muttersprachlichen Kirchengemeinden wesentlich mehr in Anspruch nähmen als Katholiken ohne Migrationshintergrund.
Die Aussagen seines Vorredners Kohlschreiber und die auf neuester Datenbasis fußenden Ausführungen von Gari Pavkovic zeigten auf anschauliche Weise, dass sich das ehemals „evangelische" Stuttgart im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer bikonfessionellen Stadt mit lange Zeit konstant wachsendem Katholikenanteil entwickelt hat. Um 2010 wird die
Katholikenzahl mit der Zahl der evangelischen Stuttgarter gleichauf sein - bei insgesamt abnehmender Mitgliederzahl. Zusammen werden die beiden großen Kirchen noch etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung umfassen. Die andere Hälfte wird folglich jene Menschengruppe stellen, die in der Statistik der Kategorie der „sonstigen" und „keine Religionsangehörigkeit" zugeordnet werden.
Bei der abschließenden Podiumsdiskussion, in der Vertreter der katholischen Kirche (Domkapitular Rudolf Hagmann), der Landesregierung (Innenminister Heribert Rech), der Wissenschaft (Max Matter, Universität Freiburg) und kommunaler Migrantenorganisationen (Rino Iervolino und Gari Pavkovic) beteiligt waren, wurde zunächst über den Heimatbegriff reflektiert.
Die Frage, ob die Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte Bürger mit islamischem Hintergrund erreicht habe, wurde kontrovers diskutiert und beurteilt. Einig waren sich die Beteiligten darüber, dass für eine gelingende gesellschaftliche Integration die Beteiligung der aufnehmenden wie der aufzunehmenden Gruppe notwendig sei. 

Autorin: Maria E. Gründig

v.li.: Rudolf Hagmann, Gari Pavkovic, Dr. Maria E. Gründig, Rino Iervolino, Rainer Kohlschreiber, Dr. Karl-Heinz Maier-Braun, Prof. Max Matter, Dr. Verena Wodtke-Werner, Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Reinhold Weber, Heribert Rech.